Die Rache der 47 Ronin
Alljährlich findet am 14. Dezember gleichzeitig in der Stadt Ako (Präfektur Hyogo - zwischen Kobe und Hiroshima) und im Sengakuji-Tempel im Tokyoter Stadtteil Shinagawa das Gishi-Matsuri - das Fest der treuen Samurai - statt. Mit diesem Fest gedenkt man 47 Kriegern, deren Treue und Loyalität zu ihrem Fürsten über den Tod hinaus bestand.
Japan am Anfang des 18. Jahrhunderts: Das Land ist seit den Tagen der Schlacht von Osaka im Sommer 1615 endlich geeint, Tokugawa Tsunayoshi ist Shogun und hält die Macht fest in den Händen. Damit dies auch so bleibt, hatte sich schon Tokugawa Ieyasu einige Vorsichtsmaßnahmen einfallen lassen. Eine davon war, die Fürsten des Landes zu zwingen, aller zwei Jahre mit großem Gefolge am Hofe des Shogun in Edo vorstellig zu werden. Diese Reisen waren natürlich sehr kostspielig, so dass die Daimyo kein Geld mehr für eventuelle Rebellionen ausgeben konnten.
So befand sich auch Asano Naganori, Herr der Burg Ako, im März des Jahres 1701 in Edo, um dem Empfang für die Gesandtschaft des Kaisers im Palast des Shogun beizuwohnen. Für die Einweisung der Fürsten in die komplizierten Abläufe und Protokolle der Feierlichkeiten war der Zeremonienmeister Kira Yoshinaka zuständig. Kiras bescheidenes Einkommen reichte allerdings bei weitem nicht aus, um seine Ansprüche zu befriedigen. So nahm er von den seiner Obhut unterstellten Fürsten Bestechungsgelder für seine Dienste an. Während alle anderen diesem ungeschriebenen Gesetz Folge leisteten, widersetzte sich Fürst Asano, erzogen im geradlinigen traditionellen Geiste eines Landsamurai, diesen Praktiken beharrlich. Daraufhin begann Kira, den jungen Fürsten in fortgesetzter Weise schwer zu beleidigen, bis dieser voller Wut schließlich sein Schwert zog und den Zeremonienmeister im Gesicht verletzte.
Auf das Ziehen eines Schwertes im Palast des Shogun stand die Todesstrafe. Auf Grund seiner Herkunft wurde Asano Naganori gestattet, durch Seppuku aus dem Leben zu scheiden, was noch am selben Tag geschah. Auf Anordnung des Shogun wurde der Name des Gerichteten aus der Adelsrolle getilgt, alle Ländereien konfisziert und die Bediensteten entlassen.
Die Nachricht von den Vorgängen in Edo trafen Oishi Kuranosuke, den Burgvogt von Ako, völlig unvorbereitet. Er war nun als engster Vertrauter seines hingerichteten Fürsten verantwortlich für die Zukunft der Burg und seiner Krieger, die mit ihm zusammen jetzt das traurige Schicksal von Ronin (herrenloser Samurai) annehmen mussten. Seine Lage war schwierig: Einerseits versuchte er durch Petitionen an den Shogun, die Einziehung der Ländereien rückgängig zu machen und Asano Naganoris Bruder Nagahiro als Fürsten von Ako zu bestätigen. Auf der anderen Seite musste er seine Krieger, die wie er auf Rache sannen, von überstürzten Taten abhalten, um den Erfolg eben dieser Petitionen nicht zu gefährden.
Wochen später traf die erwartete Nachricht ein: Die Gesuche waren abgelehnt worden, Asano Nagahiro wurde nach Hiroshima verbannt und alle Samurai hatten die Burg Ako sofort zu verlassen. Die Meinungen der Asano-Gefolgsleute gingen auseinander: Die einen sahen nur den Ausweg, ihrem Herrn durch Seppuku in den Tod zu folgen, was aber gesetzlich verboten war. Andere wollten die Burg bis zum letzten Atemzug gegen die Truppen des Shogun verteidigen. Oishi sah seine letzte Pflicht seinem Fürsten gegenüber in der Organisation der Rache an Kira Yoshinaka. Dieser war mittlerweile aus den Diensten des Shogun entlassen worden und in ein befestigtes Anwesen außerhalb des Palastbezirkes gezogen. Ein offizieller Rachefeldzug musste normalerweise schriftlich angemeldet werden, um legal zu sein. Jedoch hätte Kira beim geringsten Anzeichen von Feindseligkeiten Zuflucht auf der Burg seines Sohnes Uesugi Tsunanori gesucht, wo er dem Zugriff der Rächer wohl für immer entzogen gewesen wäre. Also blieb nur der geheime, also ungesetzliche Weg. Oishi Kuranosuke entließ alle Bediensteten, übergab die Burg an die Shogunatstruppen und versprach, mit den Kriegern, die ihm auf seinem Weg folgen wollten, in Verbindung zu bleiben. Oishi zog zunächst nach Yamashina in der Nähe von Kyoto. Danach ließ er sich von seiner Frau scheiden und schickte sie zu ihrer Familie zurück, damit sie durch seine kommenden Taten nicht in Mitleidenschaft gezogen würde.
Die nächsten Schritte waren allerdings schwieriger. Kira ließ Oishi und die wichtigsten seiner Männer durch Spione seines Sohnes Uesugi Tsunanori überwachen. (Dieser war allerdings bestrebt, sich nicht in die peinliche Affäre seines Vaters hineinziehen zu lassen. Es war aber klar, dass er Kira beim kleinsten Hinweis auf Gefahr in seiner Burg Yonezawa aufnehmen würde.) Also änderte Oishi seinen Lebenswandel radikal: Er begann sich vorzugs- weise im Vergnügungsviertel von Kyoto aufzu- halten, trank Tag und Nacht Sake und ließ sein Äußeres total verkommen. Das führte dazu, dass er von anderen Samurai, die ihn von früher als absolut ehrenhaften Krieger kannten, beschimpft, angespuckt und sogar getreten wurde. All das ließ er widerspruchslos über sich ergehen. Wenn man bedenkt, dass einem Samurai die Ehre wichtiger war als das eigene Leben, kann man den unermesslichen Grad der Erniedrigung erkennen, der sich Kuranosuke unterzog. Er spielte seine Rolle so hervor- ragend, dass nicht nur die Menschen in Kyoto abfällig über ihn sprachen. Am Ende fragten sich sogar seine getreuen Mitstreiter, ob Oishi noch der richtige Anführer für ihr Vorhaben sei. Der einzige Trost war ihm nur die Aussicht auf seine Rache.
Nach vielen Monaten gleich lautender unrühmlicher Berichte war es dann soweit. Uesugi Tsunanori zog seine Spione zurück - trotz Flehens des verängstigten Kira. Jetzt konnte man mit der Ausführung des großen Planes beginnen, für den Oishi Kuranosuke solche Demütigungen auf sich genom- men hatte. Er sammelte seine Männer, die unterdessen ein unauffälliges Leben geführt hatten, und zog heimlich mit ihnen nach Edo. Dort hatten schon seit längerer Zeit einige Getreue das Anwesen und die Gewohnheiten von Kira und seiner Gefolgschaft ausgekundschaftet. Kuranosuke und seine Krieger mussten absolut sicher sein, dass Kira sich wirklich in seinem Haus aufhielt, wenn der Angriff erfolgte. Nach mehreren vergeblichen Anläufen erfuhren sie, dass Kira für den 15. Dezember zu einer Teezeremonie geladen hatte und die Nacht zuvor mit Sicherheit in seiner Residenz verbringen würde. Auf einer letzten Versammlung in der Herberge Fukayama-no-Hachiman wurde die Strategie für den Angriff und die Verteilung der Aufgaben bestimmt. Danach ließ Oishi seine Männer zählen: Zusammen waren sie noch 47.
Am Abend des 14. Dezember 1701 war es endlich soweit. In Uniformen der Feuerwehr Edos als Tarnung über den Rüstungen marschierten sie zum Hause von Kira Yoshinaka und umstellten es. Sie stellten vorbereitete Schilder mit ihrem Anliegen auf und versicherten den Nachbarn, dass ihnen kein Schaden zugefügt werden solle. Danach brachen sie mit voller Wucht ein und überwältigten die Wachmannschaft. Nach einigen Scharmützeln und einer längeren Suche in den weit verzweigten Gängen des Hauses wurde Kira unter dem lauten Freudengeschrei der Angreifer schließlich im Nachthemd gestellt. Er hatte sich in einem Geräteschuppen versteckt. Als ehrenhafter Samurai bot Oishi Kuranosuke dem Mörder ihres Fürsten an, Seppuku begehen zu dürfen und damit würdig aus dem Leben zu scheiden. Aber der ehemals so stolze und hochmütige Höfling war zu einem heulenden Feigling geworden, der um sein Leben bettelte. Kuranosuke schlug ihm den Kopf ab.
Der Kampf war natürlich nicht unbemerkt geblieben. Vor dem Tor von Kiras Residenz hatte sich viele neugierige Anwohner eingefunden. Als Oishi schließlich seine erschöpften Männer hinaus führte, ging ein Raunen durch die wartende Menge. Die Kleidung der Krieger war blutig und zerrissen. Obwohl sie keine Verluste erlitten hatten, waren doch viele mehr oder weniger verwundet worden. Einer der Ronin trat hervor und verkündete: "Fürst Kira Yoshinaka ist tot. Wir haben den ruhelosen Geist unseres Herrn Asano Naganori befriedigt. Kein anderer hat etwas von uns zu befürchten!" Danach marschierten die Krieger unbehelligt fünf Meilen durch Edo zum Sengakuji-Tempel, wo ihr Fürst begraben lag. Dort wuschen sie zuerst sich und danach den Kopf ihres Feindes in einem nicht vereisten Brunnen und gelobten, dass nie wieder jemand diesen Brunnen zum Waschen benutzen solle. (Diese Regel wird bis zum heutigen Tag befolgt.) Anschließend legten sie Kiras Kopf auf dem Grab ihres Fürsten nieder, und Oishi verlas ein vorbereitetes Schriftstück, in dem er ihr Handeln erklärte.
Kurze Zeit später stellten sich die Ronin widerstandslos den Behörden des Shogun. Sie alle wussten von vornherein, dass auf ihre Tat als Strafe eine unehrenhafte Hinrichtung stand. Die Männer wurden in vier Gruppen aufgeteilt und in den Häusern der Fürsten Hosokawa, Mori, Matsudaira und Mizuno unter Hausarrest gestellt. Die Resonanz unter der Bevölkerung und noch mehr die Fürsprache angesehener Fürsten ließen den Shogun, der selbst mit den Ronin sympathisierte, zögern, sie unehrenhaft zu bestrafen. Allerdings konnte er die Tat auch nicht ignorieren, sollte seinem Ansehen kein Schaden zugefügt werden. Einen Ausweg fand der Abt von Ueno: Da die Männer ein Verbrechen verübt hatten, verdienten sie die Todesstrafe. Auf der anderen Seite war die Absicht und die Durchführung der Tat im vollen Einklang mit dem Bushido, dem Kodex der Samurai, und damit zweifellos ehrenvoll und vorbildhaft. Deshalb sollte ihnen die Gnade gewährt werden, den ehrenvollen Tod eines Samurai durch Seppuku zu sterben. Und so geschah es. In der dritten Märzwoche des Jahres 1703 entleibten sich 46 Krieger im Garten des Fürsten Hosokawa; angefangen beim 16jährigen Sohn des Kuranosuke, über den mit 77 Jahren ältesten Kämpfer bis zum letzten, dem Anführer Attentats Oishi Kuranosuke selbst. Sie alle wurden neben ihrem Fürsten im Sengakuji-Tempel begraben.
Nach dem Überfall auf Kiras Haus wurde das rangniedrigste Mitglied des Bundes nach Hiroshima geschickt, um Fürst Asanos Bruder die Nachricht vom Erfolg ihres Vorhabens zu überbringen. Zwei Jahre später stellte sich der Bote und bat darum, wie seine Kameraden ebenfalls Seppuku begehen zu dürfen. Um die Angelegenheit nicht wieder aufleben zu lassen, verweigerte der Shogun ihm diese Bitte, und er wurde dreiundachtzig Jahre alt.
Dass die Taten der 47 Ronin auch heute noch in den Herzen vieler Japaner weiterleben, bezeugen neben dem jährlichen Gishi-Fest auch die vielen Opfergaben und Räucherstäbchen, die jahraus jahrein die Gräber von Oishi und seinen Kameraden schmücken. Und wer heute nach Tokyo kommt und den Sengakuji-Tempel besucht, wird sich kaum der erhabenen Stimmung dieses Ortes entziehen können.