Der Kiai
Richtiges Karate ist nichts Starres oder Steifes, sondern eine Kunst, in der eckige und abgehackte Körperfor- mationen keinen Platz haben. Die Bein-, Arm- und Körperbewegungen wechseln ständig die Stadien der Spannung und Entspannung. Denn nur körperlich und geistig entspannt können wir blitzschnell auf Angriffe reagieren oder selber Angriffe starten. Im Moment des Auftreffens - egal ob Angriff oder Abwehr - sind alle Muskeln angespannt, um die Kraft des ganzen Körpers in den Auftreffpunkt zu konzentrieren.
Um eine Karatetechnik maximal wirksam zu machen, helfen uns verschiedene Faktoren, wie z.B.: Schnelligkeit, Kime (Brennpunkt), Standsicherheit, Körperspannung und Kiai. Kiai wird übersetzt als "Sammlung der Energie" bzw. "Meer der Energie". Denn in diesem Kampfschrei wird die gesamte geistige und körperliche Energie auf einen Punkt gebracht. Die Technik des Kiai manifestiert viele Komponenten. Körper, Atmung, Geist und das innere Fühlen bilden eine Einheit, wobei die Qualität des Fühlens der eigenen Tiefe die Kraft des Kiai ausmacht. Über diesen Elementen steht eine Bedingung, nämlich, dass der Schrei nicht aus der Kehle, sondern aus dem Hara (Bauch) kommt, wobei eine Anspannung der Bauchmuskeln vorausgeht.
Der Kiai, dessen man sich bei allen Arten von Kampfkünsten bedient, macht Techniken beim Angreifen, Abwehren, Werfen, Treten, Schlagen usw. kraftvoller und zeigt den Ausbruch der physischen und psychischen Energie. Gleichzeitig kann der Kiai auch als Waffe benutzt werden, indem man einen Angreifer mit einem lauten Schrei stoppt und ihm somit einen Schrecken einjagt, oder ihm schlimmstenfalls einen Schock versetzt. Einen leisen, leicht gedehnten Kiai setzt man ein, um zu zeigen, daß man bereit ist, zu kämpfen, oder um äußeren und inneren Energien / Spannungen eine Öffnung zu geben. Eine letztere Form, die beschrieben werden soll, findet man eher im Fitnesscenter. Es ist der laute, lang gedehnte Kiai, bei dem langsam im gleichen Maße die Bauchmuskeln angespannt werden und der Atem zu fließen beginnt. Einsetzbar ist dieser Schrei, um beispielsweise einen Gegner auszuheben. Zugleich beruhigt, belebt und stärkt er Atem, Geist und Körper.
So wie es verschiedene Formen des Kiai gibt, so gibt es auch unterschiedliche Arten. Arten des Kiai sind rein objektiv alle Kampfschreie, doch sind sie individuell unterschiedlich anzuhören. Wie schon gesagt, macht die Qualität des Kiai das innere Fühlen aus. Der Schrei soll nicht schön klingen, sonder er hilft uns in unserer Einheit von Spannung und Entspannung, alle Energie und Spannungen auf körperlicher und geistlicher Ebene freizusetzen.Oft kann man beobachten, daß Schüler den Kiai ohne Bewusstsein machen. Das heißt, sie schreien, weil es vom Trainer angeordnet wurde bzw. weil es die Kata oder Kumiteform vorschreibt. Schließt man die Augen und hört den betäubenden Schrei, ist man beeindruckt. Öffnet man die Augen und sieht die dahingeschluderte, spannungslose Technik, ist einem zum Lachen zumute. Dabei wird klar, daß die wenigsten sich schon einmal Gedanken über den Kiai bzw. über das Zusammenspiel von Karatetechnik und Kiai gemacht haben.